Gamescom 2015 – (K)eine Industrie wie jede andere
Beim erstmaligen Besuch der weltgrößten Veranstaltung für interaktive Unterhaltung können einem die Größe, Farbintensität und kreative Gestaltung der über 800 Messestände mit Fantasiegebilden und -figuren auf rund 200.000 Quadratmetern schier den Atem rauben. Meterhohe Leinwände mit Videospieltrailern oder Livevorführungen erwecken das Gefühl, hunderte Filmpremieren gleichzeitig nebeneinander zu erleben. Wäre der kahle Messeboden mit rotem Samt ausgelegt, die Illusion wäre perfekt.
Jeder Stand ist dabei ein eigenes Kunstwerk, das den Einfallsreichtum der präsentierten Branche widerspiegelt. Ob mannsgroße Ork- oder Zombiefiguren, professionell choreografierte Bildschirmreihen, beleuchtete Wassertanks, Feuerkelche über den Besucherköpfen, digital bespielbare Standwände oder Videoscreens in Kinoformat, der Fantasie und dem Budget sind offenkundig keine Grenzen gesetzt.
Die Wahrnehmung wandelt sich
Auf den ersten Blick ist die Beurteilung dieser riesigen Veranstaltung einfach. Hier präsentiert sich eine starke Industrie, die weltweit Milliarden umsetzt, den Spieltrieb der Menschen von Jahr zu Jahr in immer besserer Qualität bedient und selbstverständlich auch von der Politik als bedeutender Wirtschaftszweig wahr- und ernstgenommen wird.
Dieser Eindruck greift jedoch zu kurz. Die Spieleindustrie ist nicht nur eine weitere Branche, die neben bekannten Industriezweigen wie der Chemie, Automobil- oder Energiewirtschaft Arbeitsplätze schafft und Umsätze generiert. Als neues popularkulturelles Freizeitangebot wurden die digitalen Spiele in den ersten Jahren als Nischenware verstanden und politisch unterschätzt. So war es leicht, das vermeintlich reine Jugendprodukt zur Zielscheibe für gesellschaftliche Fehlentwicklungen zu machen und bei jedem auffällig gewordenen Jugendlichen auf sein Faible für Computerspiele als wahrscheinlichsten aller möglichen Gründe für sein falsches Verhalten hinzuweisen.
Bei einem Jahresumsatz von 2,7 Milliarden Euro im Jahr 2014 in Deutschland ist es heute nicht mehr möglich, PC- und Videospiele als reine Kinderspielerei abzutun und oberflächlich zu bewerten. Der ungebremste Erfolg der Branche und ihrer Produkte über alle Altersgruppen hinweg ist letztlich Spiegelbild eines veränderten Kultur- und Konsumverhaltens in den Industrienationen. Auf der einen Seite verhelfen arbeitnehmerfreundliche Rahmenbedingungen und der technische Fortschritt den Menschen zu immer mehr Freizeit. Auf der anderen Seite haben die benannten Technologiesprünge zu einer Vielfalt an Spielemöglichkeiten bei kontinuierlich steigender Qualität geführt, so dass heute für jeden Spielertyp jeglichen Alters eine Vielzahl von Angeboten vorliegt.
Technologie-Ideen spielerisch entwickeln
Die Gamesbranche ist dabei zu einem Innovationstreiber geworden, der durch seine innovationsbejahende Klientel und dem spielerischen Ansatz sehr früh mit neuen technologischen Errungenschaften experimentieren kann. Auch auf der Gamescom konnte man den Hauch der Zukunft spüren. Hier standen die Virtual-Reality-Brillen „Occulus Rift“ von Facebook und „Morpheus“ von Sony (im Bild) zum Ausprobieren bereit. Die Firmen entwickeln derzeit Videospiele, in denen man sich mithilfe der VR-Brille innerhalb der virtuellen Umgebung eines Spieles fortbewegen und agieren kann.
Auf diese Weise rückt ein alter Traum von Wissenschaft und Forschung in greifbare Nähe: die vollständige Immersion. Der Mensch verliert sich in einer virtuellen Umgebung und ist nicht mehr Fremdkörper sondern Teil des Geschehens. Seit das Holodeck in den 60er Jahren den Mitgliedern der Star Trek-Crew ermöglichte, eine virtuelle Welt innerhalb eines Raumes visuell, akustisch und haptisch entstehen zu lassen, lässt diese Idee die Forscher nicht mehr los.
Fantasie beflügeln
Auch das Abtöten der Fantasie von Kindern werfen Kritiker den Spieleentwicklern gerne vor. Wer jedoch die Vielzahl von selbstgemachten Kostümen auf der Gamescom gesehen hat, mit denen sich die Spielefans in die fantastischen Wesen aus den Videospielen verwandeln, kann darüber nur müde lächeln. Hier wird auch gerne übersehen, dass kein Kind von Geburt an kreativ und ideenreich ist. Fantasie muss erlernt werden. Früher haben Kinder ihre Spieleideen Büchern, dem realen Leben oder noch früher griechischen Sagen entnommen und nachgespielt. Die viel umfangreicheren Lebens- und Spieleerfahrungen heutiger Kinder führen daher zur detailreichsten Fantasie, die je eine Kindergeneration vorweisen konnte und die heutige Eltern immer wieder fasziniert.
Verband mit Aufklärungszwang
Ein Blick auf die Homepage des Veranstalters der Gamescom, dem Bundesverband Interaktive Unterhaltungssoftware e. V. (BIU), macht deutlich, dass die Gamesbranche nach wie vor keine Industrie im üblichen Sinne ist. Bei Traditionsverbänden wie dem Verband der Chemischen Industrie e. V. (VCI) reicht es in der Selbstdarstellung auf der eigenen Website völlig aus darauf hinzuweisen, dass der Verband „die wirtschaftspolitischen Interessen von rund 1.650 Chemieunternehmen in Deutschland vertritt und als Stimme der Branche mit Politik und Behörden sowie anderen Bereichen der Wirtschaft, der Wissenschaft und den Medien kommuniziert“.
Der BIU ist jedoch aufgrund der zwiespältigen Sichtweise auf sein Produkt gezwungen, sich wesentlich breiter aufzustellen und reicht somit – als Ironie der Geschichte – viel weiter in die Gesellschaft hinein als jeder andere Branchenverband.
Neben der „transparenten Darstellung des Marktes“ sowie der „Stärkung des Games-Standortes Deutschland“, sieht es der BIU notgedrungen ebenfalls als seine Pflicht, die Akzeptanz von Computer- und Videospielen in der Gesellschaft zu erhöhen, den Kinder- und Jugendschutz, die Medienkompetenz sowie den Daten- und Verbraucherschutz zu fördern und sogar die Software- und Produktpiraterie zu bekämpfen. Alles Aufgaben, die von breitem gesellschaftlichen Interesse sind und somit sowieso auf der politischen Agenda jeder Partei stehen sollten und nicht nur auf der Fahne eines einzelnen Verbandes.
Wann kommt die Bundeskanzlerin?
Es ist also noch ein weiter Weg, bis das beeindruckende Industrieschauspiel der Gamescom sein Pendant außerhalb der Messehallen in Form von politischer Unterstützung und gesellschaftlicher Akzeptanz findet. Da ist es zwar gut, wenn die parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur ihre politischen Kollegen dazu aufruft, mehr Videospiele zu spielen, um auf diesem Gebiet mehr Sachkompetenz zu entwickeln, wie Dorothee Bär es bei der Eröffnung der Gamescom 2014 getan hat. Oder wenn die parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesminister für Wirtschaft und Energie, Brigitte Zypries, bei der diesjährigen Eröffnung unterstreicht, dass Spiele Innovationstreiber, Lernwerkzeug, Unterhaltungs- und Kulturgut sind. Besser wäre es aber gewesen, wenn an ihrer Stelle wieder ein Mitglied der Bundesregierung sein Spiele-Know-how bewiesen hätte, wo 2013 noch der damalige Bundeswirtschaftsminister Rösler mit seiner Anwesenheit geglänzt hatte.
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