dmexco 2016 – Wie eine Digitalmesse einen falschen Hype anfeuert

media-news-for-parents.comÜber 1.000 Aussteller, mehr als 570 Top-Redner und ein neuer Besucherrekord von 50.700 Besuchern, die dmexco hat wieder einmal alle Rekorde gebrochen. An zwei Tagen trafen sich internationale Branchengrößen des digitalen Marketings im September in Köln und diskutierten über das Thema unserer Tage: Big Data. Jenseits von Fragen der Überwachung oder Persönlichkeitsrechten suchten die Aussteller und Redner dieser stetig wachsenden Fachveranstaltung Antworten darauf, wie nachverfolgbares Kundenverhalten am besten interpretiert und in bare Münze umgewandelt werden kann. So zierte bereits im Jahr 2015 folgender Satz den dmexco-Stand von IBM: „Know what your customers want before they do“.

Der Kunde wird umgarnt

Der Wunsch der Branche ist eindeutig. Weniger Streuverluste beim Schalten von Werbung ist das Ziel. Je genauer des Kunden Vorlieben bekannt sind, desto gezielter kann er mit Werbung angesprochen werden. So lautet die Gleichung, die auf den ersten Blick so einfach klingt und auf den zweiten Blick unendlich kompliziert zu sein scheint.

Da wird gerungen um Analysemodelle, gestritten über vermeintliche politische Überreglementierung, diskutiert über akzeptable Werbeformen, philosophiert über den Einsatz künstlicher Intelligenz in der Zukunft. Einem Außenstehenden erscheinen die überhitzten Debatten mitunter kompliziert und überfordernd.

Mehr Wissen bedeutet mehr Sinn

Dabei wird übersehen, dass sich so vieles gar nicht verändert hat. Nach wie vor geht es in der Werbebranche darum, Verkaufspsychologie einzusetzen und den Kunden zu einem Einkauf zu bewegen. Zu geschickten Regalplatzierungen, emotionalen Werbespots und stimulierender Supermarktmusik kommen nun noch digitale Werbebanner, Advertorials und Paid-Content-Modelle hinzu.

Für den Kunden kann das angenehm sein. Je besser seine Vorlieben interpretiert werden, desto weniger wird er künftig mit unerwünschter und daher sinnloser Werbung konfrontiert. Wenn ein Wähler noch unentschieden ist, an welcher Stelle des Zettels er bei der nächsten Wahl sein Kreuzchen machen soll, wird es ihm nicht schaden, wenn er vom lokalen Partei-Ortsverein zu einem exklusiven Informationsabend eingeladen wird. Egal wie viele Daten von Internetnutzern auch immer bekannt und analysiert werden, letztlich obliegt es immer noch dem Individuum selbst, ob es den Verlockungen erliegt, einen realen Bedarf verspürt oder im besten Sinn einfach nur von einer Leistung überzeugt wurde und seine begrenzten finanziellen Mittel oder Aufmerksamkeit der einen oder der anderen Sache zuteilwerden lässt.

Big Data ist nicht das Problem

Insofern kann die Debatte über die Nutzung von Big Data eigentlich unaufgeregt und konsumwirtschaftlich erprobt geführt werden, da die westlichen, kapitalistisch geprägten Länder hier über jahrzehntelange Erfahrung verfügen. Stellen sich doch seit über 60 Jahren dieselben Fragen nach der Ausbalancierung zwischen Wirtschaftsinteressen und Verbraucherschutz, zwischen akzeptabler Verkaufspsychologie und abzulehnender Übervorteilung. Dabei wird der Verbraucher von Ökonomen seit jeher als mündiger Bürger verstanden, der als Konsument durchaus in der Lage ist, rationale Entscheidungen zu treffen. Bewusste Manipulation oder unbeeinflussbare Konsumentenbenachteiligung werden vermieden durch schützende Gesetze des Kartellrechts oder des unlauteren Wettbewerbs.

In diesem Geiste kann auch heute und morgen sachlich um einen Verbraucherschutz gerungen werden, der die Konsumwirtschaft nicht unnötig knebelt, aber den Konsumenten vor Niedertracht und Überforderung schützt. Insofern ist es eine logische Fortsetzung des bekannten Verbraucherschutzes, dass beim Influencer- oder Content-Marketing Schleichwerbung verboten bleibt oder Sponsoring als solches gekennzeichnet werden muss.

In diesem Sinne hat man sich als Konsument auf der dmexco auch über die Erfolge der Suchmaschinenanbieter Yahoo und Microsoft gefreut, sowie darüber, dass der kleine Snapchat-David den großen Facebook-Goliath jagt. Schließlich gilt in der digitalen Welt dasselbe wie in der „old economy“: Je mehr Wettbewerb, desto besser für den Konsumenten.

Digital alleine reicht nicht

Die große Gefahr besteht daher erst einmal nicht in der Sammlung und Nutzung von Daten. Eine weitaus größere Gefahr besteht darin, dass allem Digitalen heute ein fast göttlicher Nimbus anhaftet. Wer alleine die Rednerliste der Konferenz durchsieht, stellt verschämt fest, dass sich Traditionsfirmen wie Merck, Procter & Gamble oder SAP bei weitem nicht so sexy anhören wie Facebook, Twitter oder eben Snapchat. Doch nicht jedes digitale Geschäftsmodell muss automatisch wünschenswert sein, wie es der omnipräsente Ruf nach digitaler Transformation zuweilen suggeriert.

Es ist daher zu einfach, klassischen Wirtschaftsbranchen vorzuwerfen, sie würden digitale Trends regelmäßig und insbesondere in Deutschland verschlafen. Auch auf der dmexco waren Schmähtiraden dieser Art wieder zu hören. Als Beispiel wurde die Taxibranche genannt, die derzeit von Anbietern wie Uber und mytaxi umgekrempelt wird. Natürlich ist es richtig, dass sich hiesige Geschäftsführer nicht damit hervortun, sich bereitwillig und frühzeitig nach digitaler Technik umzuschauen, die ihnen ihren Arbeitsalltag erleichtern.

Disruptiv heißt auch ungeregelt

Allerdings war dieser Umstand bis vor wenigen Jahren noch ein Vorteil für die Firmen und ihre Angestellten. Innovationsprozesse verliefen über lange Zeiträume und konnten daher behutsam, ausgewogen und in größeren Firmen in Abstimmung mit dem Betriebsrat eingeführt werden. Der rasante technologische Fortschritt stellt heute jedoch bewährte Geschäftsmodelle so plötzlich auf den Kopf, dass keine Zeit bleibt für Einführungsprozesse, die sowohl die Unternehmens-, aber eben auch die Arbeitnehmerinteressen berücksichtigen.

Insofern ist es eher ein positives Signal, dass weder die ehemaligen Manager der Musikindustrie, weder die Leiter der Taxiunternehmen, noch sonstige Vorstände und Geschäftsführer der vergangenen Jahre bereit und in der Lage waren, ihre Unternehmensprozesse so radikal und schnell zu verändern, wie es die disruptiven Einschläge heutiger Innovationszyklen verlangen.

media-news-for-parents.comDer Wettbewerb wird härter

Wollen heutige Manager dem Ruf der schnellen Innovation und agilem Management gerecht werden, sind sie gezwungen, Neuerungen einzuführen, ohne dass mögliche Nachteile bewertet und von Beginn an abgefedert werden können. In allen großen Unternehmen Deutschlands finden entsprechend aufgeheizte Diskussionen zwischen Betriebsleitungen und Betriebsräten derzeit statt, wenn es um die Einführung von neuer digitaler Technik geht.

Die Taxibranche mag heute digitaler und somit moderner daher kommen, aber ob sie wirklich besser ist, bleibt fraglich. Eine stärkere Automatisierung der Prozesse führt unweigerlich zu einem Stellenabbau und zu einer Reduzierung hochqualifizierter Jobs. Die Einbindung von privaten Fahrern ohne Taxifahrer-Ausbildung bedeutet einen Qualitätsverlust für die Konsumenten. Die nicht mehr vorhandene Vorsortierung der rein maschinell über Apps gebuchten Fahrten führt mitunter zu waghalsigen Fahrmanövern, wenn die Taxifahrer darum kämpfen, aufblinkende Kundenanfragen als erster anzunehmen. Der ohnehin harte Wettbewerb auf der Straße durch die zunehmende Konkurrenz wurde weiter verschärft, was zu mehr Schwarzarbeit und auch zu mehr Unfällen durch übermüdete Fahrer führen kann.

Auch die Musikindustrie hat sich bis heute nicht von der hochgelobten Digitalisierung erholt. Musiker beklagen bis heute unzureichende Gewinnbeteiligungen an Streamingdiensten wie Spotify oder Napster und Plattformanbieter wie Youtube verdienen mit den Inhalten anderer nach wie vor viel Geld, ohne die Contentproduzenten angemessen oder gar automatisch an den Erlösen zu beteiligen.

Digitalisierung mit Bedacht

Natürlich sind die neuen Geschäftsmodelle kundenfreundlicher und treffen auf eine vorhandene und große Nachfrage. Deshalb müssen wir uns der digitalen Transformation auch mit aller Hingabe widmen. Aber wir sollten uns nicht unter Zeitdruck setzen lassen. Denn digital und schnell ist nicht automatisch gut.

Von daher möchte man den Managern der digitalen Wirtschaft zurufen: Nehmt meine Daten und nutzt sie und eure Algorithmen zur Modernisierung von Unternehmen. Aber investiert die Gewinne weise zum Wohle von Konsumenten und Arbeitnehmern.

Das könnte dann auch eine echte Chance sein, wegweisende Innovationen zu produzieren und nicht nur den digitalen Ideen des Silicon Valley hinterher zu laufen.

 

 

 

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