Medienkompetenz in Deutschland top oder Flop?
Digitale Rakete oder Online-Schnecke?
Der European Digital Progress Report beschreibt die Erfolge deutscher Internetnutzer wie folgt:
„84% der Internetnutzer sind regelmäßige Internetnutzer (76% EU-Durchschnitt). Auch in Bezug auf ihre digitalen Kompetenzen weisen die Deutschen überdurchschnittliche Ergebnisse auf. Im Laufe des vergangenen Jahres sind die Deutschen im Internet aktiver geworden, vor allem in sozialen Netzen. Außerdem liegen sie beim Online-Einkauf deutlich über dem europäischen Durchschnitt. Auch die deutschen Unternehmen haben 2015 die Möglichkeiten, die das Internet bietet, stärker ausgenutzt, vor allem den elektronischen Informationsaustausch, wo Deutschland besser als alle anderen Mitgliedsstaaten abschneidet.“
Der im November erschienene D21 Digital Index bescheinigt den Deutschen hingegen nur geringe Digitalkompetenzen, um dem umfassenden Wandel wissend und chancenorientiert zu begegnen. Die Studienmacher sehen dringenden Handlungsbedarf vor allem bei Arbeitgebern und dem staatlichen Bildungssystem, um die Bevölkerung für die komplexen Anforderungen einer digitalisierten Welt fit zu machen.
Digitale Kompetenzen gemäß EU-Definition
Beide Studien lehnen sich bei der Beurteilung der Digitalkompetenzen an das Digital Competence Framework der EU an. Dabei werden digitale Fähigkeiten auf Basis der fünf Kategorien Contenterstellung, Problemlösung, Informationsbewertung, Kommunikation & Kollaboration und Sicherheit bewertet, wobei die letzte Kategorie erst in diesem Jahr hinzugefügt wurde.
Da der EU-Report bereits Mitte diesen Jahres erschienen ist, bezieht er sich noch auf das alte Kategoriensystem ohne den Sicherheitsaspekt. Doch obwohl diese Werte in diesem Jahr noch nicht einfließen konnten, lässt sich sagen, dass Deutschland im EU-weiten Vergleich gut abschneidet und ein klarer Aufwärts- und Geschwindigkeitstrend festgestellt werden kann.
Deutschland hadert mit der Digitalisierung
Beim D21 Digital Index zeigt sich hingegen der schwierige und nach wie vor eher fremdelnde Umgang mit der digitalen Entwicklung, mit dem Deutschland seit Jahren zu kämpfen hat. Anstatt die Chancen in den Vordergrund zu stellen und die deutlichen Fortschritte zu begrüßen, fallen in der Studie eher Vokabeln wie „Überblick behalten“ oder „Schritt halten“.
Einen mangelhaften Aus- und Weiterbildungswillen der Unternehmen erkennt die Studie deshalb, weil sich „immer noch“ 80% der Befragten neue Technologien autodidaktisch beibringen. Dabei übersehen die Autoren, dass dies gerade im Softwarebereich der beste Weg ist, digitale Anwendungen zu erlernen und zu verstehen.
Schon das Grußwort der Studie von Bundeswirtschaftsminister und Vizekanzler Sigmar Gabriel spricht Bände. Als Beleg dafür, dass immer mehr Deutsche das Internet auch mobil nutzen, heißt es „sie buchen Reisen online“ – als könnte man das am Desktop-PC nicht auch tun.
Dass „nur wenige die neuen Technologien bis ins Detail durchdringen“ wird damit erklärt, dass „lediglich eine Minderheit über Programmierkenntnisse verfügt oder die Technik versteht, die hinter den immer leichter zu bedienenden Benutzeroberflächen liegt“.
Waschmaschinen sind nur was für Ingenieure
Bei diesen Begründungen müssen selbst dem geneigten Leser die Haare zu Berge stehen. Um ein Auto zu fahren, muss man also demnächst auch einen Motor bauen können? Um ein Flugzeug zu nutzen, einen Pilotenschein haben? Wer allen Ernstes eine kompetente Internetnutzung von Programmierkenntnissen abhängig macht, hat von dem gesamten Thema der Digitalisierung und den dafür benötigten Kompetenzen bisher offensichtlich nur wenig verstanden.
Globale Alleinstellung
Als Höhepunkt arbeitet das Grußwort als einziges herausragendes Ergebnis die Tatsache heraus, „dass die Zahl derjenigen steigt, die sich bewusst Zeit nehmen, offline zu sein.“ Während in Deutschland ein IT-Gipfel den nächsten jagt, um den Digitalisierungsrückstand dieses Landes zu verringern, freut sich der Bundeswirtschaftsminister also vor allem über diejenigen, die ihren „souveränen Umgang mit der Digitalisierung“ dadurch zeigen, dass sie sich davon abkoppeln. Ein solcher Gedankengang dürfte weltweit einzigartig sein.
Die Sprache muss sich wandeln
Insofern reflektiert das Fazit der D21-Studie weniger die mangelhafte Digitalkompetenz der deutschen Bevölkerung, sondern vielmehr die von Vorurteilen, Angst und Vorbehalten geprägte deutsche Digitaldebatte. Denn eigentlich unterstützen die Ergebnisse der D21-Studie die der EU-Bewertung zu wachsendem digitalen Interesse und Können in Deutschland.
Mehr als Dreiviertel der Bevölkerung sind online, weit mehr als die Hälfte hat inzwischen ein Smartphone und 59 % sind mobil online. Alle 14- bis 49-Jährigen nutzen das Internet, rund 70 % der Menschen über 60 und sogar schon rund 40 % der über 70-Jährigen. Unglaubliche 78 % der Arbeitnehmer und Selbstständigen sind neugierig und interessiert genug, sich fehlendes Wissen auf eigene Faust anzueignen. Bereits ein Viertel der Bevölkerung nutzt Cloud Services wie Dropbox und 57 % organisieren ihren Alltag mithilfe von Instant Messengern.
Fehlende Digitalkompetenzen sind da wohl eher auf der Seite von Politik und Studienautoren zu finden, als auf der Seite der Menschen in diesem Land.
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