Graffiti – dein Freund und Helfer

Die Polizei dein Freund und HelferWoran denken Sie bei dem Begriff Polizei? An Menschen, die Fußballfans an Bahnhöfen abfangen und einkesseln, ohne dass diese Leute zu dem Zeitpunkt schon irgendetwas Illegales getan haben? Oder vielleicht an Menschen, die im staatlichen Auftrag Blitzer an völlig gefahrlosen Straßen aufstellen? Oder an Menschen, die mit der Vorratsdatenspeicherung nach der anlasslosen Totalüberwachung von Bürgern rufen und damit unseren Rechtsstaat angreifen? Oder gar an Menschen, die aufgrund einer völlig ungenügenden Personaldecke und ausufernden Überstunden psychologisch betreut werden müssen?

Keine Frage, der Ruf der Polizei als „dein Freund und Helfer“ hat Kratzer bekommen. Wer auf der Straße einen Auffahrunfall hat, überlegt sich inzwischen sehr genau, ob er die Polizei ruft, weil eine lange Wartezeit keine Seltenheit ist.

In Bonn macht seit einem Jahr eine Graffiti-Gruppe auf sich aufmerksam, die im gesamten Stadtgebiet Tags sprüht mit den Zahlen 110 – der Notrufnummer der Polizei. Im aktuellen Fall wurde ein Graffito an der Bahnhaltestelle Heussallee hinterlassen. Diese Aktion hat deshalb überregionale Aufmerksamkeit erregt, weil genau diese Haltestelle eigentlich für eine Kunstaktion der Bundeskunsthalle vorgesehen war, bei der Künstler „Auftragsgraffiti“ sprühen sollten. Bei der Ausstellung „Hall of Fame“ ging es laut Eigenwerbung auch darum, bei der Präsentation der urbanen Kunstform die „Dynamik der Subkultur, die einerseits von wetteifernder Konkurrenz, aber auch von hohem Respekt für die Werke anderer geprägt ist“, sichtbar zu machen.

In der Entwicklungsgeschichte wird Graffiti-Sprühen aber vor allem als einen Aufruf zur Hinterfragung der Regeln des Establishment verstanden. Das Besprühen von fremdem Eigentum stellt regelmäßig die Frage nach der Definition von Eigentum überhaupt. „Die Eigentumsordnung einer Gesellschaft als Teil der Wirtschaftsordnung regelt die Verfügungsrechte über wirtschaftliche Güter“ heißt es auf Wikipedia mit Bezug auf den zweiten Band des Handwörterbuches der Wirtschaftswissenschaft von 1980. Eigentumsordnungen lassen sich demnach danach unterscheiden, welche Arten von Gütern privates Eigentum sein dürfen und welche nicht. Dabei werden folgende Güter und Fragen unterschieden:

Ist privates Eigentum an anderen Menschen zulässig (Sklaverei, Leibeigenschaft)?
Ist privates Eigentum an Herrschaftspositionen zulässig (Erblicher Adel, Dynastie)?
Ist privates Eigentum an Produktionsmitteln und Infrastruktureinrichtungen wie Grund und Boden, Fabriken, Brücken, Straßen etc. zulässig (Kapitalismus)?

Gerade die letzte Güterfrage ist seit jeher Gegenstand der Graffiti-Tradition. Wenn wir Brücken mit unseren Steuern finanzieren, gehören sie uns allen. Sollten wir sie dann nicht auch alle nutzen dürfen? Muss es uns dann nicht allen erlaubt sein, sie mit Bildern zu verschönern? Graffiti sind keine Schmiererei. Graffiti sind eine Aufforderung an die Bürger sich zu fragen, wie Schönheit definiert wird und vor allem, wer sie definiert.

Wir leben in einer Welt, in der Künstler darüber streiten, welche Bedeutung Kunst heute überhaupt noch hat. Soll sie zum Nachdenken anregen? Oder schockieren, um gesellschaftliche Grenzen und Tabus in Frage zu stellen? Oder soll sie ganz ohne tieferen Sinn einfach für sich selbst stehen und jeden Menschen anders berühren oder ansprechen? Was bedeutet es für die Kunst an sich, wenn sich Jochen Richter dafür schämt, dass seine Werke für Millionen gehandelt werden? Was heißt es, wenn Damien Hirst Kunstwerke über ein Auktionshaus vertreibt und somit den traditionellen Kunsthandel der Reichen und Mächtigen über Galerien und Vermittler in Frage stellt? Was sagt es aus, wenn Musikkünstler wie Prince und U2 ihre Werke an den Plattenfirmen vorbei nur als Buchbeilage bzw. iTunes-Download dem Hörer direkt und kostenlos anbieten?

Und was bedeutet es, wenn die Bundeskunsthalle Graffiti – die starke Ausdrucksform der Straße – in den traditionellen Kunstbetrieb integriert, indem sie Graffitikünstler bestellt und für ihre Tätigkeit bezahlt? Wenn sich der Kunstbetrieb eine Ausdrucksform der Unterdrückten der Gesellschaft einverleibt, wird denen, die aufbegehren, ihre Stimme genommen. Dann sind Graffiti keine Gesellschaftskritik mehr, sondern einfach nur noch bei Sotheby’s gehandelte Millionengemälde. Dann verliert die Graffiti-Kunst ihre Aussagekraft und Bedeutung. Doch während sie nun in Bonn um Hilfe ruft, wird mit der 110 keine Rettung kommen. Schließlich definiert die Polizei die von der Bundeskunsthalle protegierte urbane Kunst als „kein Kavaliersdelikt, sondern eine Straftat, die verfolgt wird“, wie Daniela Lindemann, als Pressesprecherin der Bonner Polizei im oben zitierten Artikel mitteilt.

Deshalb ist die Aktion der 110-Sprüher äußerst interessant. Der Freund und Helfer wird als Unterstützer des Angriffs auf das bürgerliche Eigentum und die Kunst selbst entlarvt.

Bei der Ausstellung der Bundeskunsthalle in Bonn werden übrigens auch Werke vom Hamburger Graffiti-Künstler OZ gezeigt, der 2014 verstorben ist. Er ist mehrfach für seine Kunst verhaftet worden. Von der Polizei – deinem Freund und Helfer.

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